Jahresbericht 2020: Komm› in mein Haus

Jahresbericht 2020

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen

Basel im März 1935: Die Fasnacht fand bei überdurchschnittlich mildem Wetter statt, die Entführung des deutsch-jüdischen Flüchtlings Berthold Jacob durch Gestapo-Agenten beschäftigt die Politik und die Bevölkerung nervt sich über Verkehrsbehinderungen im Zuge des Kantonalbank-Neubaus am Blumenrain. Rund 85 Jahren später hat sich nicht viel verändert – und trotzdem ist alles anders: Nicht nur Vernachlässigbares wie gefühlt ewige Baustellen in der Stadt tritt in den Hintergrund. Selbst Klimaerwärmung und Flüchtlingskrise werden aus den Schlagzeilen geworfen von einem einzigen omnipräsenten Sujet, dem auch die Fasnacht nicht gewachsen ist. Die Corona-Pandemie gibt 2020 den Takt vor und wir Chorleitende sind mittendrin statt nur dabei.

Ich habe mir lange überlegt, was ich in diesem Bericht schreiben soll, mitteilen möchte über ein Jahr, in dem zu diesem Thema schon alles und nichts gesagt worden ist. Dieses Lied einer Berliner Musikgruppe scheint mir jetzt und auch sonst ein guter roter Faden zu sein, widrigen Umständen zu begegnen. 2015 zwar als explizite Hommage an die Willkommenskultur entstanden, begreife ich es gerade nach diesem Jahr als zeitlose Botschaft – möge es auch die eine oder den anderen unter Euch ansprechen.

Es liegt in der Luft, alle sehen den Elefanten im Raum.

He’s talk of the town.

Der König ist tot, lang lebe der Clown.

Wir bau’n ein’n Zaun.

14. März: Wir hielten in gewohnt minimaler Besetzung unsere GV im Restaurant Isaak ab. Es war absehbar, dass die Situation sehr bald auch den Kulturbetrieb einschränken würde – aber noch nicht, wie lange. Unsere erste Medienmitteilung empfahl vorerst Anlassabsagen bis Ostern. Zwei Tage nach der GV folgte der Lockdown: Nun diktierte ein neuer medialer Dauerbrenner die Stadtgespräche. Während der Trump’sche Traum vom Zaunbau vorübergehend weltweit Realität wurde, erstarrte der Schweizer Kultur- und Bildungssektor: Geschlossene Schulen und schweigende Chöre, kein Singunterricht und keine Choraktivitäten bis auf Weiteres.

Wie konnte es nur so weit kommen? Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben nicht zufällig eine derart groteske Blüte getrieben wie einen Donald Trump, den sprichwörtlichen Elefanten im Porzellanladen und als solcher fleischgewordenes Parteilogo der US-Republikaner. Darin verwurzelt sind viele weitere Faktoren, die wohl eine solche Pandemie begünstigt haben mögen. Den Konsequenzen werden wir uns zu gegebener Zeit in unserem gesamtgesellschaftlichen Verhalten stellen müssen – zunächst gings aber darum, unseren Berufsstand zu schützen.

Geb› ich die Hand, heb› ich die Faust?

Geb› ich alles oder auf?

Ewiger Rausch und Medizin,

steh› ich auf oder bleibe liegen?

20. März: Es war klar, dass unser Verband jetzt etwas für seine Mitglieder tun sollte. Eine Notlösung zur Überbrückung der Zwangspause musste her – und sie konnte innert kürzester Zeit gefunden werden. Dank der Schwarmintelligenz des Internets erwies sich bald die Video-Conferencing-App „Zoom“ als geeignet; auf YouTube gingen etwa einige Kurztutorials viral, die Jim Daus Hjernøe (Professor für Chorleitung am „RAMA Vocal Center“ in Dänemark) über Nacht zum gefragtesten Mann der Chorwelt machten. Mit ein bisschen Glück konnten wir Jim für zwei Web-Schulungen gewinnen und daraus eine grosse Kiste weit über unseren Verband hinaus machen, die ich mit ein paar Zahlen illustrieren möchte:

  • Rund 70 Teilnehmende an den Web-Schulungen
  • Rund 30 beteiligte Chordachverbände/-institutionen aus der ganzen Schweiz
  • 7 europäische Chorverbände, die unsere Web-Schulungen genutzt und weiterverbreitet haben („Europa Cantat“ sowie nationale Verbände in Deutschland, Estland, Italien, Litauen, Spanien und Weissrussland)
  • Ein Dutzend Medienberichte (u.a. Radio SRF, Radio Basilisk, Basler Zeitung, Basellandschaftliche Zeitung, Schweizer Musikzeitung, etc.)
  • Rund 40’000 YouTube-Aufrufe der Web-Schulungen

So erhielten wir wichtige Impulse, unsere Chöre zusammenzuhalten und wenigstens einige musikalisch-soziale Elemente eines Chorbetriebs digital fortzuführen. Trotz der föderalistischen Trägheit, der auch die Verbände der Schweizer Chorlandschaft unterworfen sind, konnten wir unsere Kolleginnen und Kollegen landes- und weltweit mitreissen. Nicht zuletzt unseren Chormitgliedern war dies ein starkes Signal, wofür die Chorleitenden einstehen: Wir reichen uns (virtuell) die Hand. Wir stehen auf. Wir machen das Beste daraus und geben alles für unsere Chöre.

In der Tasche ’n paar Briefe,

die eigentlich nur wissen wollen: „Wann sehen wir uns wieder?“

Ein paar billige Stiefel,

die weisse Wintersonne scheint durchs Skelett der Kiefer.

27. Mai: Der Bundesrat gestattete wieder Kulturaktivitäten. Zwar blieben diese mit Schutzkonzepten stark eingeschränkt, aber die Freude war spürbar. Das virtuelle Proben via „Zoom“ war an seine Grenzen gestossen, die Pfade des Begehbaren zu rasch ausgetreten. Trotz strahlenden Frühlingswetters waren wir ausgemergelt wie nach einem viel zu langen Winterschlaf, der Hunger nach Chor war riesig. Unter dem Motto „Defensiv agieren statt offensiv reagieren“ empfahlen wir vorsichtig, noch bis August zuzuwarten. Viele aber hatten sich bereits im Juni übers Wiedersehen in den Chorproben gefreut, sobald es wieder erlaubt war. Und wir hofften insgeheim, dass über den Sommer hinaus wieder etwas Ruhe einkehren würde.

Aus den Autos fremde Lieder,

im Rücken stecken noch die schmalen Blicke vom Kassierer.

Während sich Priester und Gelehrte mit Büchern bewerfen,

füllen sich die Strassen mit Verlierern.

28. Oktober: Es kam leider anders, seit Wochen hatte es sich angebahnt. Sich täglich pulverisierende Infektionsrekorde sorgten auch innerhalb der IG CHorama für intensive Debatten. Die Delegierten aller Schweizer Chordachverbände mussten im Wochentakt einen neuen Konsens ausdiskutieren für ein gemeinsames Schutzkonzept, das ich im Auftrag der IG erstellen durfte. Diesem aufreibenden Hin und Her schob der Bundesrat einen beispiellosen Riegel: Ein nationales Chorverbot war Tatsache (mit ganz wenigen Ausnahmen), ungleich dem allgemeingültigen Lockdown im Frühling standen wir jetzt mit heruntergelassenen Hosen da.

Erneut war unser Verband gefordert; es galt nun, auf die verschiedenen Geldtöpfe aufmerksam zu machen, um Einkommensausfälle für Chorleitende resp. arbeitgebende Chöre zu minimieren. Aber auch einer anhaltenden Stigmatisierung der Chorszene musste entschieden entgegengetreten werden. Der VChN hatte sich u.a. an einer Petition „Ich singe, also bin ich“ (rund 20’000 Unterschriften) sowie an der nationalen Kampagne „Culture Is My Job“ mit einer finanziellen Spende beteiligt. Ausserdem konnte zusammen mit dem Verband Musikschulen Schweiz erreicht werden, dass Einzelgesangsunterricht nachträglich vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) für zulässig befunden wurde.

Trotz aller Nachvollziehbarkeit für diese prekäre Pandempiephase fiel es schwer zu verstehen, warum ausgerechnet wir derart negativ exponiert werden mussten. Ob neben Tröpfchen auch sogenannte Aerosole eine erhöhte Infektionsgefahr darstellen könnten, war durch den VChN bereits Ende Mai beim BAG nachgefragt worden. Wir erhielten eine indirekte Antwort darauf erst in den Verordnungserläuterungen zum Chorverbot. Leider widerspiegelte dies die latent unzulängliche Kommunikation, die wissenschaftliche Beratende und Behörden offensichtlich auch untereinander medial austrugen; indessen wurden Chorverbände als Vertreter der leidtragenden Chorszene weder in Entscheidungsfindungen noch in mögliche Exit-Strategien einbezogen. Diesmal stand uns kein verlängerter Winterschlaf, sondern ein regelrechtes Wachkoma auf unbestimmte Zeit bevor.

Der Himmel schwer und grau, keiner geht mehr nach draussen,

die Schwalben fliegen tief, Hunde werden laut,

Alles versinkt im Regen, alle wie blind im Nebel.

Komm› doch rein, ruh› dich aus, bis der Wind sich legt.

15. Dezember: In diesem Jahr hatte ausser dem äusserst spannenden und sehr gut besuchten Vokalphonetik-Workshop mit Wolfgang Saus Ende Januar alles abgesagt werden müssen, so auch unser Jubiläumskonzert im November. Dieses hätte uns als Chorleitenden-Chor auf die Bühne bringen sollen. Wenigstens waren wir inzwischen dermassen pandemieerprobt, dass wir selbst in dieser dunkelsten Periode einen Weg fanden, wöchentlich neue Situationen zu meistern. Das Umsteigen auf digitale Notlösungen via „Zoom“ war nach wie vor valabel, aber als Verband wollten wir andere, neue Impulse geben.

Über das Projekt „Kulturkirche Pauluskirche“ (das dank VChN-Beteiligung dereinst einen Chorschwerpunkt beinhalten soll) gelang es uns, an 6 Abenden im November und Dezember jeweils rund 25 Verbandsmitglieder zu einem Ersatzangebot zu versammeln und miteinander zu singen; als Berufsverband war uns dies noch gestattet. An jedem Abend haben Verbandsmitglieder einen Teil gestaltet: Sei es mit einem Workshop oder einem mitgebrachten Lied, das einstudiert und gesungen wurde. So konnte die Kernidee des Jubiläumskonzerts – das gemeinsame Singen unter Chorleitenden – doch noch verwirklicht werden. Ein umso schönerer Begleiteffekt aber war, dass wir uns so regelmässig trafen wie noch nie, miteinander sangen, uns untereinander austauschten und voneinander lernten. Etwas, was in normalen Zeiten nie möglich wäre, weil wir ja alle unseren geliebten Choraktivitäten nachgehen würden!

Der Höhepunkt dieses Ersatzangebots (und eigentlich meines ganzen Verbandsjahres) waren für mich die beiden Abende, als wir der Chorleitungsklasse von Raphael Immoos als Studiochor zur Verfügung stehen durften. Den Studierenden boten wir die Gelegenheit, mit einem echten (Profi-)Chor zu arbeiten – welche Seltenheit in diesem Jahr! – und wir konnten verschiedene Chorleitungsgenerationen zusammenbringen; ausserdem profitierten wir von Einblicken in Raphaels Unterricht und konnten uns wie zu eigenen Studienzeiten in einer Masterclass weiterbilden.

In diesen Monaten künstlich erkalteter Gesangslust wurde die Pauluskirche für uns zu einem letzten warmen Zufluchtsort, wo wir für zwei Stunden pro Woche nicht nur wieder mal an unserer Tiefatmung arbeiten, sondern endlich auch wieder unsere Augen und Herzen öffnen konnten für das, was wir am liebsten tun. Sofern gewünscht, wird sich der Vorstand für eine Fortsetzung engagieren – ebenso wie für eine kontinuierlich starke Begleitung im weiteren Verlauf der Pandemie.

Egal, woher du kommst, an welchen Gott du glaubst:

Gibst du die Welt nicht auf, dann komm› in mein Haus.

Atme tief ein, atme tief aus, öffne dein Herz, mach› die Augen auf,

komm› in mein Haus.

Krisen schweissen Menschen zusammen; die Chorleitenden sind keine Ausnahme. So ist es doch auch erfreulich für unseren Verband, dank 15 (!) Neuaufnahmen zum ersten Mal eine dreistellige Anzahl Mitglieder zu vereinen. Wie würden wohl unsere Gründungsmitglieder staunen – sie begannen damals unsere Verbandsgeschichte mit einer Petition, die ein professionelleres Expertenwesen fürs Eidgenössische Sängerfest in Basel forderte. Am 16. März 1935 wurde unser Verband ins Leben gerufen, am 16. März 2020 wurde er in den Lockdown geschickt. Exakt 85 Jahre hat sich nicht viel verändert – und trotzdem ist etwas anders: Wiederum kämpfen wir als Chorleitende für bessere Rahmenbedingungen; diesmal aber als Teil der gesamten Gesellschaft gegen eine Pandemie, die mit den Ende Jahr angelaufenen Impfkampagnen hoffentlich ein baldiges Ende im 2021 finden wird.

David Rossel, Präsident

Wohnort: Basel (BS) | Mitglied seit: 2016 | Chöre: Männerstimmen Basel, Vokalensemble Voices, Cäcilienchor Aesch, Vocalino Wettingen

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